Dienstag, 14. Juni 2016

Verbandswechsel


Am nächsten Tag schaffe ich es tatsächlich den Morgen einigermaßen entspannt zu beginnen. Die Maus und ich wollen gerade zum Frühstück gehen als die Chirurgen hereinplatzen. "Jetzt ist doch Verbandswechsel!" Achso? Das wusste ich nicht, hat mir vorher keiner gesagt. Na dann los. Dr. Hülsemann muss anscheinend schnell in den OP, sie ist sehr in Eile. Ich nehme, mit der Maus auf dem Schoß, auf einem Stuhl im Behandlungsraum platz. "Passen Sie jetzt gut auf, später müssen Sie das selber machen!" Ok, volle Konzentration!

Der alte Verband wird mit einer Schere aufgeschnitten, die einzelnen Lagen weggepult. 
Die Hand sieht merkwürdig klein und schmal aus. Der neue Daumen steht steif und wie ein Fremdkörper ab. Um ihn herum ist eine dicke noch ziemlich blutige Narbe, die aber von Fettgaze halb verdeckt ist. (Diese Fettgaze - oder wie das auch immer heißt - sind kleine Gewebestücke mit Schmiere drauf, die verhindern, dass der Wundschorf am Verband kleben bleibt und abgerissen wird.) Die Fettgaze wird kurz gelupft, um zu schauen, ob irgendwas entzündet ist. In meinen Augen sieht es furchtbar entzündet aus. Alles ist geschwollen und rot, die Gelenke der Finger ganz dick. Die Ärztin meint es sieht gut aus. Die Maus ist genauso wenig überzeugt wie ich.

Dann geht's los. 
In eine kleine Kompresse wird ein Loch geschnitten und der Ringfinger durch dieses gesteckt. Das vehindert, dass die Finger später aneinander wundreiben. Soweit so gut. Dann wird eine zweite Kompresse wie ein Schal um den Daumen gelegt, so dass nur noch sein oberstes Gelenk herausschaut. So soll verhindert werden, dass der Daumen nach hinten überdehnt wird. Das hängt irgendwie mit den Sehnen zusammen, von denen die eine während der OP gekürzt werden kann, die andere aber nicht. Zwischen Daumen und Zeigefinger wird eine mittelgroße Kompresse, zur Hälfte gefaltet, gelegt, um die Zwischenfingerfalte groß zu machen. Eine zweite mittelgroße Kompresse wird dann genutzt um den Daumen komplett in die Gegenüberstellung zum Ringfinger zu ziehen. Das tut trotz Schmerzmittel weh und die Maus fängt an zu Schreien. 

Ich versuche alle Schritte in mein Gehirn zu brennen. Ich spüre Stresshormone durch meinen Körper zirkulieren, meine Beine fühlen sich kribbelig an, als hätte jemand eine Flasche Sekt in meinem Blut aufgemacht. Ich soll nach jedem Schritt das ganze Konstrukt festhalten. Dann wird eine selbsthaftende Binde drumrum gewickelt und zum Schluss eine normale Binde. Der Daumen wird auch dabei immer so gewickelt, dass die Gegenüberstellung zum Ringfinger hinhaut. Das tut Gott sei Dank nicht mehr ganz so doll weh. Die Wunde verschwindet unter haufenweise Stoff und die Maus beruhigt sich langsam. Ich habe es aufgegeben, mir alle Anweisungen und Tipps merken zu wollen. Das ging in der Eile einfach zu schnell. Die letzte Binde wird mit mehreren Klebestreifen (auch auf ganz bestimmte Weise) festgeklebt und wir sind fertig. Ich weiß nicht mehr, was Dr. Hülsemann dann noch zu mir gesagt hat, ich fiel ihr ins Wort mit "Mir ist schwindelig ..." Sofort nimmt jemand mir die Maus ab. Rege Betriebsamkeit bricht aus. Ich soll mich in mein Bett legen gehen. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Mein Blickfeld wird immer kleiner und es wird langsam immer dunkler. Auf dem Flur stützt mich einer der Ärzte. Wie ich von der Zimmertür bis zu meinem Bett gekommen bin weiß ich nicht mehr, ab der Tür war alles schwarz. Nach ein Paar Sekunden Füße hoch halten kehrt mein Sehvermögen zurück. Die Maus ist im Arm der anderen Mutti im Zimmer und schaut mich besorgt an. Wer ist hier der Patient?

Ich zähle die Sekunden, bis der Papa und der große Bruder zum Besuchen kommen. Wir trauen uns in das Spielzimmer im Erdgeschoss, dass von 14 bis 18 Uhr von Ehrenamtlichen betreut wird. Ich sitze auf der Couch und bin so froh, mal nicht hinter der Maus hinterher rennen zu müssen. (Mittag wieder vergessen ...) Die Maus spielt schön mit ihrem Bruder.



Abends überkommt mich Panik. Ist morgen schon wieder ein Verbandswechsel dran? Ich frage die Schwester. Nein, erst übermorgen. Ich fang mit der Maus im Arm an zu heulen. Ich kann das nicht. Die Schwester meint, ich brauch ja nicht dabei zu sein. Aber ich muss das doch lernen, für zu Hause. Und außerdem kann ich doch die Maus nicht einfach allein lassen.
Bitte, bitte, lass es übermorgen besser werden.

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